logo_MK

Gastbeitrag Dr. Karin Jurczyk

Dr. Karin Jurczyk ist die Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München. Sie hat an der Universität Bremen über die «Familienpolitik als andere Arbeitspolitik» promoviert und seither über Familienpolitik, Gender, Familie und Beruf geforscht. Unter anderem hat sie in einem Sammelband das Kapitel «Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften» im Jahr 2014 veröffentlicht. Dieser Text lieferte nicht nur den Namen für das Projekt «Doing Family», das im Handlungsfeld «Gesellschaft» der Metropolitankonferenz Zürich angesiedelt ist und sich zurzeit unter der Leitung von André Woodtli, Vorsteher des Amts für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich, in der Umsetzung befindet, sondern er diente auch als inhaltliche Grundlage. Mit diesem Gastbeitrag von Dr. Jurczyk gewähren wir einen Einblick in die zugrundeliegende Theorie, die das laufende Projekt «Doing Family» von Anfang an geprägt hat.

«Man hat eine Familie nicht einfach, sondern man muss sie tun.»«Man hat eine Familie nicht einfach, sondern man muss sie tun.»
Mit diesem Kerngedanken beschäftigen sich die Familienwissenschaften. In der Familienforschung hat man nämlich beobachtet, dass sich die klassische Familie als «Vater-Mutter-Kind-Gefüge» über die letzten Jahre verändert hat: Das Leben als und in der Familie hat an Selbstverständlichkeit verloren. Beispielsweise gibt es heutzutage eine Vielfalt an Formen des Zusammenlebens – unter anderem in gleichgeschlechtlicher oder heterosexueller Elternschaft, verheiratet oder nicht-verheiratet oder als Eineltern- oder Zweielternfamilie. Aber auch der Rahmen für die Familiengründung, die Aufgaben der Eltern, die Stabilität von Beziehungen und die Zuordnung von Geschlechterrollen haben sich gewandelt. Zu diesem Wandel haben auch steigende individuelle und gesellschaftliche Anforderungen beigetragen. Dazu gehören beispielsweise die Erwerbstätigkeit von Müttern, die vermehrt notwendig geworden ist, höhere Glückserwartungen an die Liebe, und die anspruchsvollere Förderung von Kindern im Bereich der Bildung. Die Gemeinsamkeit als und in der Familie ergibt sich nicht mehr von alleine. Somit ist Familie zunehmend zum «Projekt» geworden, das sich von der traditionellen Normalfamilie deutlich unterscheiden kann. Man hat eine Familie nicht mehr einfach, sondern man muss etwas dafür tun, damit eine Familie zustande kommt, erhalten bleibt, an die unterschiedlichen Anforderungen angepasst wird und das gewünschte Miteinander entsteht.

Bei der Wahrnehmung von Kernaufgaben sind Konflikte vorprogrammiert
Unsere Gesellschaft ist aber weiterhin darauf angewiesen, dass Familien ihre Kernaufgaben wahrnehmen. Konkret heisst das: Kinder grossziehen, sie versorgen und sich ihnen zuwenden. Familie ist jedoch nicht nur aus Sicht der Eltern zu betrachten, denn zu einer Familie gehört auch die wechselseitige Versorgung und Zuwendung, beispielsweise, wenn sich die erwachsenen Kinder um die Eltern kümmern müssen. Voraussetzung für die Wahrnehmung solcher Kernaufgaben ist, dass Familien die Möglichkeit haben, mehrere Lebensbereiche wie Beruf, Sorgearbeit und Freizeit zu vereinbaren um so ein gutes Gleichgewicht zu finden. Da aber zu einem Familiengefüge verschiedene Generationen, Rollen und Geschlechter gehören (unter anderem Kinder, Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern, Verwandte oder Freunde) sind Konflikte wegen verschiedener Erwartungen und Bedürfnisse durchaus vorprogrammiert. Das gewünschte Gleichgewicht zur Erfüllung familialer Kernaufgaben ist somit nicht immer einfach zu erreichen.

Die Notwendigkeit von zeitgemässen Unterstützungsleistungen
Vor diesem Hintergrund bedarf es eines genauen Blicks darauf, was Familien an Unterstützung brauchen. Für die Familienpolitik ergibt sich hieraus mehreres:

Zum ersten gilt es, Familien wegen dem, was sie tun statt wegen der ausgewählten Lebensform anzuerkennen. Konkret heisst das, dass die Familienpolitik hinschauen muss, welche Sorgeleistungen innerhalb einer Familie (beispielsweise Pflege eines erkrankten Kindes) erbracht werden, um diese durch Zeit, Geld und Infrastruktur zu fördern. Dies bedeutet unter anderem: die ökonomische Basis aller Familien zu sichern, genügend Zeit für die familiale Sorge zu schaffen und infrastrukturelle Angebote wie Naherholungsräume zur Verfügung zu stellen. Familienbezogene Dienstleistungen sind auszubauen und zentrale Anlaufstellen wie Familienzentren zu schaffen. Die lokale Ebene ist hier von besonderer Bedeutung.

Damit verbunden ist zum zweiten der Abschied vom Leitbild einer «richtigen» Familie, nach welchem sich familienpolitische Massnahmen immer noch mehrheitlich ausrichten. Stattdessen sollte die Wahlfreiheit von Lebensform und Arbeitsteilung ernst genommen und ermöglicht werden. Das heisst nicht eine bestimmte Form und nicht die Ehe sind zu fördern, sondern die Vielfalt an Familien. Familienpolitik muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Menschen ihre Vorstellung eines guten Familienlebens realisieren können. Dazu gehört auch die Schaffung einer familienbewussten und geschlechtergerechten Arbeitswelt, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen.

Zum dritten sind spezifische Belastungen von Eltern und Kindern wahrzunehmen. Verwundbare Gruppen (beispielsweise alleinerziehend, bildungsarm, krank oder sozial isoliert) sind besonders zu unterstützen, um ihnen gleiche Verwirklichungschancen zu gewähren.

Aktueller Stand des Projektes «Doing Family»
Mit «Doing Family» hat die Metropolitankonferenz Zürich ein zukunftsweisendes Projekt lanciert. Dabei bot Dr. Karin Jurczyks Forschungsarbeit eine gute Ausgangslage, die für die Anwendung auf die Praxis dient. Im Projekt geht es darum, den Zusammenhang zwischen staatlichen Leistungen, Familienbildern und dem konkreten Familienalltag zu ergründen. Darauf basierend sollen der öffentlichen Hand Empfehlungen in Form eines Leitfadens abgegeben werden. Das Projekt wird von André Woodtli, Vorsteher des Amts für Jugend und Berufsberatung Zürich, geleitet und befindet sich momentan in der ersten Umsetzungsphase. Die erste Phase des Projekts setzt sich aus drei Teilbereichen zusammen und läuft jetzt an: 1. Analyse und Beschreibung von Familienbildern, 2. «Betriebswirtschaftliche Darstellung» des Familienalltags als Herstellungsprozess (Familie als «Projekt») und 3. Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hand darstellen und aufzeigen.

Voraussichtlich im Frühjahr 2017 werden die Arbeitsgruppen in einer noch zu bestimmenden Expertengruppe ihre Forschungsergebnisse vorstellen. Es ist geplant, die Ergebnisse in einem Protokoll zusammenzufassen und dieses als Leitfaden an die Metropolitankonferenz weiterzugeben, welche den Leitfaden wiederum an die zuständigen Stellen in Kantonen und Gemeinden verteilen wird.

Buchtipp:
Jurczyk, K. (2014). Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften. In: A. Steinbach, M. Hennig, & O. Arránz Becker (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft (S. 117–138). Wiesbaden: Springer VS. Erhältlich auf books.ch.

Dr. Karin Jurczyk, Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München

André Woodtli, Vorsteher des Amts für Jugend und Berufsberatung Zürich

Dr. Karin Jurczyk

Dr. Karin Jurczyk